Dienstag, 19. März 2024

Der Letzte

 


Mai 2023

Mai, endlich! Mein Lieblingsmonat.

Frühling, Stallaustrieb, die Hütesaison starten.

 

 

Jedes Jahr scheinen mir die Wintermonate härter und länger. Diesmal war es ganz besonders schlimm. Mein Körper stöhnte und ächzte unter der harten körperlichen Arbeit. Es gab ganze Einsätze, durch die ich nur mit einer Kombination aus Schmerzmitteln und Muskelentspannern kam.

Winter. Die Zeit der Ruhe.

Wenn Natur sich zum Schlafen zurückzieht, alles im Sparmodus haushaltet.

Wie oft höre ich von Schäferei-Unwissenden, dass das doch die entspannte Jahreszeit sei. Die Tiere sind im Stall, oder stehen auf großen Bauernmähwiesen in Elektrozäunen.

 


 


Dabei wird übersehen, dass jeder Halm, jeder Pellet den Schaf im Stall verspeist, jedes Wasser das es trinkt, oder das kuschelige Strohbett, vorher von Hand gereicht wurde.

 


 

 

Auch jedes Netz wurde auf, meist nicht befahrbare, Flächen getragen und aufgesteckt.

 

 

 Hohe, wolfssichere Zäune.

 

 

 

Im Wolfsgebiet eine Illusion. So sind auch die Herdenschutzhunde zu versorgen, zu verladen, zu den neuen Flächen zu verbringen.


 

 

 Und zu all dem alltäglichen die vielen Arbeiten, die man an den langen Hütetagen nicht geschafft hatte.

Festzäune frei schneiden.

 


 

Hof schier machen.

 

 

 Brombeeren bekämpfen.

 

 


Bei Schnee, Eisregen, Wind und Kälte.

 


 

 

 

Dann die Lammzeit.

 

 


 


 


 

 

Aber dass die Ablammperiode die arbeitsintensivste Zeit überhaut in der Schäferei ist, brauche ich wohl kaum weiter ausführen.

Schon seit Januar war ich an jedem Arbeitstag vor dem Schlafengehen noch einmal im Stall. Wenn ich Glück hatte, nur Kontrolle und Flaschenlämmer versorgen.

 

 

Oder eben kein Glück …

 

 

 

Dieser Winter hatte mich an all meine Grenzen gebracht, nicht nur körperlich, auch psychisch. Meine Selbstzweifel waren auf einem Vernichtungsfeldzug, gegen mich.

Aber ich hatte es geschafft!

Es gibt Ärzte, die gegen mich gewettet hatten, mich aus dem Verkehr ziehen wollten.

Aber ich habe es geschafft!

 

 

Die Hütesaison beginnt.

Endlich.

Endlich wieder Moor.

 

 

Ich und meine Schnucken.

Natürlich sind es nicht meine Schafe. Aber es ist die Herde, die mir bei meinen Arbeitseinsetzen zugesprochen ist. Wir sind uns vertraut, ein eingeschworenes Team.

 


Mai ist sehr früh für Hochmoorbeweidung. Das Pfeifengras ist noch braun und tot, die Heide trocken und nicht sonderlich lecker, nur die ersten Birken treiben in hellem Grün.

 


 

Aber das stört die Herde nicht. Sie sind die nicht belegten Schafe und Hammel. Die, die ernsthafte Naturschutzarbeit machen sollen. Wer keine Lämmer führt, ist mit wenig zufrieden, und Verfetten würde gar nicht guttun.

 


Hochmoorpflege mit Schafen ist nicht nur entscheidend für das überleben dieses vom Aussterben bedrohten Kosmos, der Artenvielfalt. Moorerhaltung trägt zur Rettung unseres Klimas bei, ist Klimaschutz, unsere Bundesregierung hat es explizit verkündet.

 

 

Und ich liebe, mit den Schafen im Moor unterwegs zu sein, die Einsamkeit, die Natur, die wilde Vielfalt, und gleichzeitig den Beweidungsauftrag erfüllen. Jetzt im Frühjahr geht es besonders um Birken. Werden diese um ihre frischen Triebe und Blätter beraubt, hindert es besonders ihr Wachstum, verhindert die Verwaldung. Wie gut, dass die Schafe frisches Birkenblatt genau jetzt gerne mögen.

 

 

Neu und aufregend ist, dass ich wieder einen jungen Hund an meiner Seite habe.

 

 

Ylva, mit ihren elf Jahren, ist in den wohlverdienten Ruhestand gegangen. Schon im November zog Mette-Marit, kurz Metti, damals sieben Monate, bei uns ein.

 

 

Eigentlich war ja mein Traum, Lillebror, meinen Tigerrüden, einmal decken zu lassen. Nachzucht von meinem Herzenshund.

 

 

Dazu der beste Hütehund ist, mit dem ich je gearbeitet habe.

 

 

 

Aber als es nun so weit war, hatte ich mich dagegen entschieden. Erstens hatte ich den Zeitpunkt verpasst. Ich brauchte dieses Frühjahr einen Junghund der durchstartet. Zweitens fühlte ich nicht die Energie und Kraft für einen jungen Welpen, all die Arbeit die solch ein Baby bedeuten würde. Außerdem kann man durch Genetik immer viel vorhersagen, aber wirklich drin steckt man nicht. Jeder Welpe ist auch eine Wundertüte. Ich wusste doch in etwa, was ich wollte. Und das war sicherlich kein zweiter Lille. Der sollte zumindest noch die nächsten drei Jahre mein Haupthund bleiben. Um zwei so wahnsinnige, übereifrige Arbeiter zu brauchen, hüte ich nicht genug. Es sollte Ersatz für Ylvas Arbeit kommen.

Meine Freundin hatte eine junge Hündin für mich, die genau dies versprach. Sie war ein getigerter Strobel, präsentierte sich menschenfreundlich, anhänglich, leicht führig, und doch verwegen und selbstbewusst im Hunderudel. An Schafen zeigte sie null Interesse, kein versuch durch Hurden zu greifen, kein Blick zu ihnen. Das störte mich nicht, im Gegenteil. Lille war schon mit vier Monaten im totalen Schafsmodus, erspähte er welche. Ylva hingegen hatte erst mit 18 Monaten wirklich Interesse. Und Mettis Genetik war vielversprechend. Die Mutter kam aus einer Schäferei in Bayern, leistete in Hessen hervorragende Arbeit. Der Vater stammte aus meinem Ursprungsbetrieb. Ich kenne seine Vorfahren auf Generationen, seine Mutter ist eine Schwester zu Ylva und zu Bat, was nun ja wieder Lillebrors Vater ist. Also Verwandtschaft.

Über Winter hatte Metti sich gezeigt wie versprochen. Sie war sehr schnell an mich gebunden und doch hatte sie vielseitige Interessen. Schafe hinter Hurden oder Zaun gehörten nicht dazu.

Sie war nun dreizehn Monate alt. Bestes Alter, um die Kariere als Arbeitshund zu starten und ich war sicher, sie würde sich entfalten.

Damit hatte ich zum Hüten aber erstmal nur einen Hund. Das machte mir keine Sorgen, Lille war Feuereifer, wie immer, und die Herde tadellos erzogen, eng an mich gebunden. Die Schafe vertrauten darauf, dass ich sie gut und sicher zu frischen Weidegründen leiten würde.

 


 

 

Fanden sie doch etwas anderes leckerer, eine grüne Bauernwiese zum Beispiel, reichten meist ein paar Worte von mir. „Hey, das ist nicht euer Ernst!“ Wirklich, ich musste nicht einmal Rufen oder Pfeifen, nur meine gemahnende Stimme und sie verwarfen den Gedanken wieder.

 

 


Und Metti? Die ersten Stunden hielt sie sich dicht bei mir.

 

 

 


 

Doch schnell fand sie es super. Den ganzen Tag draußen unterwegs sein, schnüffeln, riechen, entdecken. Großartig. Wild fand sie megaspannend, hier musste ich einen entschiedenen Riegel vorschieben. Die grasende Herde hingegen? Langweilig. Sie stromerte in meiner Nähe, würde für einen interessanten Geruch sogar in die Herde wandern. Aber etwas mit den Schafen anfangen? Nö.

 


 

Ich beobachtete das fasziniert. Wie unterschiedlich Altdeutsche Hütehunde doch sein können! Noch nie hatte ich so einen desinteressierten Junghund.

Ja, Ylva hatte mich auch über Monate zum Hüten begleitet, ohne irgendetwas an den Schafen zu machen. Aber bei ihr war es deutlich das Zutrauen, das sich entwickeln musste.

Nicht so bei Metti, die Welt ist einfach groß und spannend. Was soll Hund sich auf so etwas langweiliges wie Schafe fokussieren? Mein kleines Flusenhirn.

 

 

 Lang sehe ich mir das nicht an, sie kommt an die Leine. Jetzt ist wirklich Langeweile angesagt. Was ein Elend für einen jungen, bewegungsfreudigen Hund. Ihre sprunghaften Interessen lassen sie ungefähr alle drei Minuten vergessen, dass man eigentlich leinenführig sein muss. Anstrengendes Leben, für uns beide.

Los mache ich sie nur, wenn sie an den Schafen läuft. Was sie dann auch tut. Da mal etwas mit Lille pendeln.

 

 

Da auch mal alleine.

 

 

 Da drüben ist doch etwas viel spannenderes? Dann komm wieder an die Leine!

Mein Mai Einsatz kommt zum Ende. Ich bin überzeugt, dass Metti schon arbeiten wird, das klaffende Loch, das Ylva hinterlassen hat, ersetzt.

 


 


Doch noch habe ich nur einen Hund zum Hüten.

 

 

Juni 2023

Zwei Tage bevor mein Einsatz im Juni beginnt, kommt die Nachricht, dass ich nicht meine, sondern die andere Herde zu hüten habe.

Mein Herz rutscht in die Hose.

Es ist die Herde mit Lämmern. Es sind weniger Tiere, aber sie kennen weder mich noch meinen Hund. Mit nur einem Hund ist das ein großes ABER. Besonders, da die Geschichten über diese Schafe nicht gut sind. Sie sollen schlecht folgen, massiv den Hund testen, überhaupt schwer zu hüten sein.

 


Außerdem soll ich all die Ecken und Kanten und die weiter aus dem Moor gelegenen Inseln abweiden, zu denen man nicht gekommen ist.

 

 

Das Wetter ist bereits im Sommer. Die Temperaturen sind so hoch, dass mein Arbeitstag morgens um sechs beginnt, viel Wasser gefahren werden muss. Alles schnell, schnell, bevor es zu heiß ist, kein Schaf mehr fressen mag.

 

 

Das Herdenverhalten übertrifft meine schlimmsten Befürchtungen. Ich kann rufen so viel ich will, sie folgen mir nicht. Nicht ins frische Futter, nicht abends in den guten Nachtpferch, gar nicht. Für alles muss der Hund, muss Lille, rabiat ballern.

Morgens gehen wir ins Moor direkt an der Pferchfläche, den Tag mit schon überweidetem Futter starten.

 


Am späten Nachmittag, nach der Mittagspause, geht’s dann auf die schwer erreichbaren Inseln, frisches Futter. Die zu ziehenden Strecken sind nicht weit, höchstens zwei Kilometer. Aber es ist heiß, auf der einen Seite junger Mais, auf der anderen Wiese, die nicht betreten werden darf, da der Brachvogel seine Jungen führt.

 

 

Jeder Meter muss vom Hund erkämpft werden. Und Lille kämpft, läuft, setzt sich ein, pumpt nach Luft und rennt doch weiter. Metti, ordentlich gelangweilt an der Leine, läuft tatsächlich auch vom ersten Tag an. Gott sei Dank!

 

 

 


Natürlich fehlt ihr der Druck, das Verständnis für die Sache. Doch geht sie bis nach hinten durch. Da muss ich mein Abrufpunkt genau wählen. Dreht sie hinter den Schafen ein, kann es passieren, dass sie mitten unter ihnen landet, die Orientierung verliert und zwischen den Tieren nach vorne zurückkommt. Da wühlt sie dann in der Herde herum, Schwanz hoch, Verwirrung im Blick und doch Vergnügen im Gesicht. Ich muss herzhaft lachen.

Ist Metti vernünftig auf dem Rückweg, mache ich mit Stimme, Körpersprache und Haltung des Stockes deutlich, dass sie nicht vorne in die Leitschafe knallt, womöglich zwischen kreuzt. Platz dafür ist viel, wollen sie ja nicht hinter mir her. Trotzdem soll die Herde immer wissen, dass sie zu mir gehört, zwischen ihnen und mir ist kein Hund.

 





 

Metti lernt schnell. Die Schafe auch. Zu verlockend ist die Wiese, sie schieben den Hund einfach weg, selbst Lilles hartes anpacken ignorierend. Er ist leider schon deutlich geschafft, überlastet.

In meiner Not verstoße ich gegen eine meiner eigenen strikten Regeln. Lasse nie den jungen Hund, der bereits motiviert ist, mit dem Alten rennen! Doch zu zweit bekommen sie die Schafe in die Spur. Erst einmal wunderbar. Aber es rächt sich. Nein, die Hunde sind nicht außer Kontrolle. Soweit lasse ich es nicht kommen. Doch Metti findet solch Begeisterung an diesem gemeinsamen Hetzen, dass sie jedes alleine Arbeiten einstellt. Schicke ich sie, läuft sie ein paar Meter und bleibt dann stehen, wo bleibt ihr Buddy?

Ich gehe mit mir selbst hart ins Gericht. Am nächsten Tag lasse ich sie nur alleine laufen. Was heißt, gar nicht. Sehnsüchtig starrt sie Lille bei seinen Einsätzen nach, macht von selbst nichts. Frust. Für sie und für mich. Lille muss schaffen wie ein Brunnenputzer. Wie soll er das durchhalten? Sein ganzer Körper wirkt schon wackelig.

Dann kommt er von einem Rumpeleinsatz zurück und hinkt. Entsetzen bei mir. Es ist nicht die Pfote, er setzt auch noch auf, aber es macht mir trotzdem Angst, irgendwie wirkt es nicht gut. Aber noch hoffe ich, dass ich überregiere, er sich nur vertreten hat.

 



 

Zum Glück überlegt Metti sich am nächsten Tag, dass nur an der Leine doch echt doof ist und läuft wieder. Lille hingegen hinkt immer noch. Ich mache Videoaufnahmen und schicke sie an meine Tierärztin und an meine Schäferfreundin. Unisono kommt die Vermutung,

Kreuzbandriss.

F***!!!!

Immerhin ist Stellungwechsel angesagt. Ein anderer Moorbereich kommt zur Beweidung. Der Weg dahin geht mitten durchs Moor. Keine Strecke zu ziehen, wir haben alle Zeit der Welt anzukommen.

 

 

Und zumindest die Leitschafe fangen an mir zu vertrauen und zu folgen. Besonders ein Jährling sticht heraus, sucht immer meine Nähe, kommt, wenn keiner kommt. Ich liebe sie! Bin ihr so dankbar!

 


 

Der neue Pferchplatz ist frisch gemäht, hier gibt es keinen Nachtisch. Dafür durch eine riesen alte Eiche Schatten, eine Wohltat für die Schafe während der Stellpause.

Nach dem Wochenende geht es in der Mittagspause mit Lille in die Praxis. Die Tierärztin bewegt das Bein durch, hört auf ein wohl typisches Geräusch, beschaut seinen Gang. Ihr Urteil, Kreuzbandriss oder -anriss. Für genaueres müsse man röntgen. Doch egal was die Aufnahme zeigen würde, das muss operiert werden, Kostenpunkt um die 2500 Euro. Es brauche nicht sofort geschehen, aber der Hund ist von diesem Moment an arbeitsunfähig.

Arbeitsunfähig??

Ich packe meinen Hund ein, die Schafe müssen laufen.

Mein Arbeitseinsatz hat doch gerade erst begonnen.

Ich habe keinen Hund.

Was nun??

Ich fahre zum Hüten.

Lille bleibt möglichst an der Leine.

Vorbei mit Ecken aushüten, vorbei mit Extramätzchen. Irgendwie ins Gebiet kommen, irgendwie die Schafe satt machen, irgendwie zurückkommen.

 


An den Pferch stecke ich jeden Tag etwas frisches Futter an. Keinen Nachtisch, aber doch ein Bonbon. So hoffe ich, dass die Herde, abends satt, trotzdem etwas Motivation hat, mir in ihr Nachtquartier zu folgen. Außerdem kann ich einer, nur einmal beschickten, Pferchfläche sicher ansehen, ob die Herde zufrieden durch die Nacht gekommen ist.

 

 

Die Schafe bleiben weiter wirklich schwierig.

Es gibt zwei Grundpfeiler auf die Herdenerziehung aufbaut.

Kurz gesagt, Zuckerbrot und Peitsche.

Ich möchte etwas von ihnen und sie folgen nicht, dann kommt der Hund, die Peitsche.

Das Zuckerbrot gibt es über meine Position. Ich stehe am frischen Futter, mir zu folgen lohnt sich, immer.

Auf beides lassen die Schafe sich nicht ein. Ich kann am frischen Futter stehen, rufen, sie kommen nicht. Habe ich mühevoll Leitschafe oder die halbe Herde mitgezogen, folgen die anderen nicht. Sind gerade wohl nicht hungrig genug, haben sich eingemümmelt. Sie erwarten damit durch zu kommen, dass die Hütezeit ihrem wiederkehrenden Hunger später angepasst wird. Und nachts gäbe es doch Pferch.

 


 

Ganz ehrlich, wäre es meine dauerhafte Herde, wären nicht die ganzen kleinen Lämmer dabei, die schon so im Moor nur schlecht zunehmen, ich wäre viel radikaler. Ich würde mir eine gedankliche Hütezeit festlegen, in der Schaf gut satt werden kann, noch etwas Zeit drauf packen und dann einfach einsperren. Sie würden sich diese Mätzchen schnell überlegen.

Nein, das kann ich den kleinen Lämmern nicht antun. So hüte ich lange und anstrengend. Mein kleines Mettihundchen wächst über sich hinaus.

Immer wieder muss sie Schafe nachschieben. Es ist unglaublich, was für Weiten sie in so kurzer Zeit zurücklegt.

 


 



Viel Gelaufe, auch für mich. Habe ich einen Teil der Herde weiter gezogen gehe ich zurück, schiebe die Zurückbleiber selbst nach. Das irritiert die braven Leitschafe sehr. Aber anders geht es nicht.

Die Strecke vom Gebiet zum Pferch versuche ich umzudrehen, die Herde vorweg laufen lassen. Etwas, was wir in meinem Ausbildungsbetrieb viel gemacht hatten. So konnte man sicher sein, kein Tier in Moorlöchern zu verlieren. Es braucht Geduld, die Schafe sind zögerlich, aber laufen dann.

 

 

 


 

Lille bleibt an der Leine. Er kann das überhaupt nicht verstehen. Sind Schafe da, gibt es für ihn nichts anderes. Sein ganzer Fokus liegt auf der Arbeit. So geht er rückwärts, beständig von mir erwartend, ihn endlich laufen zu lassen. Besonders empört ihn, dass Metti alles machen darf. Umso mehr, wenn ich die Kleine wieder und wieder schicken muss, aufmuntere noch mehr zu geben.

 


 

Ihn rückwärts über Bulten stolpern zu sehen, macht mir riesen Sorgen. Später lerne ich, dass Rückwärtslaufen eine der Hauptübungen zur Stabilisierung des Bewegungsapparates ist, dass ihn jenes vermutlich rettet.

Aber jetzt weiß ich das nicht. Gedankenspiralen. Mache ich ihn richtig kaputt? Was, wenn das Kreuzband nur angerissen ist und nun ganz reißt? Oder das zweite durch den Schongang reißt?

Auch komme ich nicht komplett ohne ihn aus. Es gibt Momente, wo ich seine Kraft, seinen Verstand brauche. Metti packt noch nicht, Ziegen bringt sie noch sehr viel Respekt entgegen. Das nützen die Lumpen natürlich schamlos aus. Ich möchte Metti auf keinen Fall in die Situation bringen, von einer Ziege aufs Maul zu bekommen. Das wären eingespeicherte Traumata, von denen sich ein Hund nur schwer wieder frei macht.

Gleichzeitig sind es die Ziegen, die als erstes ihr Misstrauen gegen mich ablegen, mir folgen, die Herde führen. Ich bin ihnen dankbar. Muss ich nicht gerade an einer fetten Fremdwiese vorbei.

 

 

Tatsächlich wird es mit der Herde von Tag zu Tag besser. Sie passen sich mir und meinem Stil an. Zumindest mehr und mehr Tiere.

 






Auch Metti entwickelt sich von Tag zu Tag.

 


 

Sie ist ein sehr direkter Hund, immer dicht an den Schafen. Beim Loslaufen kann sie leeren Raum zwischen mir und der Herde immer besser überbrücken. Daran arbeite ich natürlich auch beim Schicken, positioniere mich und gebe mit der Haltung vor, zur Seite der Herde zu starten. Kippt sie dann ein, ist sie schon an den Schafen und behält ihre Richtung bei. Mit größeren Löchern in der Herdenformation oder einem inneren Winkel kommt Metti noch nicht klar. Da würde sie einbrechen, lässt sich aber abrufen. Kommen die Schafe dahinter dann nicht nach, muss ich selbst laufen oder zumindest meine Position so weit verändern, dass der Winkel aufgehoben ist.

Metti fängt auch an, einen Griff anzudeuten. Der geht in Richtung Nacken. Wie erstaunlich, beide Eltern haben Keulengriff. Mich freut das sehr, wie schon öfter geschrieben, mag ich den Griff in den Nacken viel lieber. Fördern tue ich jetzt noch gar nichts, im Gegenteil. Bei einem so jungen Hund, der Laufen nicht sonderlich spannend findet, dessen Fokus auf Schafe drücken, man könnte auch jagen sagen, liegt, der braucht die Freude des Packens noch nicht entdecken.

Bei der schier unendlichen Weite des Moores und gleichzeitig einem zu erfüllenden Beweidungsauftrag, dazu das Ziel von satten Schafen, muss ich in die Fläche Struktur bringen. Da habe ich ja auch in dem Bericht zuvor einiges geschrieben. Mit dieser speziellen Herde und eigentlich nur einem, komplett unwissenden Hund, um so wichtiger. Bei Schafen, die ungern ziehen, kann ich nicht das pferchnahe Futter runterschrubben, um dann weite Wege zu haben. Ich hüte in bereiten Bahnen, immer ein Teil frisches Futter pferchnah für den Abend lassend.

 


 

Noch dazu, würde ich sie morgens direkt ins frische Futter lassen, hätten sie nach kürzester Zeit keine Lust mehr. Warum mehr fressen, wenn alles schon lecker war? Abends währen sie dann nicht satt. Es ist schwierig durchzusetzen, will Schaf doch schon direkt nach dem Aufstehen das Beste. Dahin wird dann gedrückt, vereitelt der Hund, wird geschmollt.

 


 

 Jede Andeutung einer natürlichen Grenze nutze ich für Hüteformen. Metti tut sich mit Grenzelaufen noch schwer, sie möchte ran an die Schafe. Gleichzeitig wird ihr Drang, an die Tiere zu kommen, immer größer und das nicht Dürfen bringt sie ins Laufen. Immer mehr läuft sie Grenze, ohne sich allzu schnell von anderen Dingen ablenken zu lassen. Ihr Fokus bleibt bei der Herde. Mette-Marit wird zum Hütehund. 

 


 

Schweift sie doch ab, oder bringt für die Situation zu viel Druck, mache ich sie weiter an die Leine. Auch braucht sie diese Pausen.

 

 

Sie ist so jung und muss trotzdem schon so ernsthaft arbeiten, rettet mir den Arsch.

Schmale Übergänge, mit links und rechts Wasser oder Schwimmrasen, bleiben mit den Schafen besonders schwierig. 

 


Ein Teil folgt, die anderen nicht. Hier kann ich nicht zurücklaufen, der Zug würde abreißen. So muss Metti alleine hinter der Herde Druck machen. Wieder und wieder.

 


 

 

Eine Situation in die kein junger Anfänger gebracht werden sollte. Sie lernt zu früh eigenständig Entscheidungen zu treffen. Außerdem ist sie lange aus meinem Blick. Sehe ich die Welle ihres Laufens noch in den Schafen gespiegelt? Sehe ich da Hundeohren fliegen? Nein? Ich renne. Und da hat sie ein Lamm am Boden, packt rein, wie im Wahn.

Brüllen.

Schande, Schande, Schande!

Was tue ich hier? Sie ist zu jung!

Aber wie anders lösen?

Ich habe keine Lösung!

Meine Stimme droht mich zu verlassen. So viel Druck, den die Kleine braucht, für dieses zu ernsthafte Geschäft.

Nachts schlafen die Hunde wie die Steine, erschlagen.

 


Ich hingegen liege Wach, zu erschöpft, zu viele Gedanken.

Was mache ich hier? Was tue ich meinen Hunden an?

Ich bin für ihr wohlergehen verantwortlich!

Und nun behandele ich sie, wie ich mich selbst behandele?

Tue ihnen das gleiche an, wie mir selbst.

Dabei trage ich doch die Verantwortung!

Ja, für mich auch.

Aber meine Hunde sind meine Schutzbefohlenen!

Immer mehr werden die Tage zum Durchhalten, zum Kampf.

 


Dann ist dieser Arbeitseinsatz endlich geschafft.

Jetzt können wir uns erholen, kann ich mich um Lilles Verletzung kümmern, kann Lösungen planen für den nächsten Einsatz.

Doch die Erholung setzt nicht ein.

Das Loch ist tiefer als tief.

Kein Ausweg mehr.

Kein Krabbeln.

Nichts.

Wie oft hatte ich schon diese Gedanken von:

Ich kann nicht mehr!

Das war jetzt zu viel!

Wie bin ich erschöpft!

Jetzt geht nichts mehr.

Nichts.

Der Arzt diagnostiziert alle Symptome eines akuten Burnouts, zieht mich aus dem Arbeitsverkehr.

Bin ich erleichtert?

Nein.

Habe ich ein schlechtes Gewissen?

Nein.

Da ist nichts mehr.

Leer.

Ausgebrannt.

Asche.

 


Und Lillebror?

Die Diagnose Kreuzbandanriss.

Sucht man im Internet, kommt eigentlich von allen Fachleuten, es muss operiert werden. Höchstens kleine Hunde können das ohne OP handeln. Und eins ist Lille sicher nicht, ein kleiner Hund. Doch weiß ich auch von genug Hunden, die nach einer Operation kaum besser Laufen als er jetzt. Lille setzt ja das Bein auf. Und die Arthrose, die mit Sicherheit folgen wird, kommt auch nach einer Operation. Arbeitsunfähig bleibt er bei beiden Varianten.

Vermutlich kam der Riss durch die extreme Überbelastung, oder aber dadurch, dass er irgendwo gegen gerannt oder hängen geblieben ist. Was hoffen lässt, dass das andere Kreuzband ihn weiter trägt. In der Literatur gehen sie davon aus, reißt ein Kreuzband, folgt das zweite. Auch unabhängig davon, ob operiert wird oder nicht.

 Meine Tierärztin und die hinzugezogene Hundekrankengymnastin unterstützen mich in meiner Entscheidung gegen eine Operation. Lillebror werden sechs Wochen absolute Ruhe verordnet. Es geht nur fürs Geschäft an der Leine hinters Haus. Nach sechs Wochen bekomme ich Massagen und Gymnastische Übungen gezeigt, die ich täglich mit ihm anwende. Darunter besagtes Rückwärtslaufen. Dazu zwei Spaziergänge pro Tag, nur zehn Minuten, das wird sehr langsam gesteigert. Und schwimmen. Wir gehen jeden Tag schwimmen. Muskelaufbau ohne Belastung. Lille hört auf zu hinken. Wir fangen wieder mit Fahrradfahren an, gleichmäßige Bewegungen.

Heute, ein halbes Jahr später, ist und bleibt er ohne Hinken. Auch wenn er mit Metti wilde Rennspiele betreibt und ohne Rücksicht auf Körper und Gelenke tobt. Trotzdem merke ich ihm an, dass die Belastung eines ganzen Arbeitstages nicht mehr sein darf.

 


Und ich?

Eigentlich das Gleiche.

Ich heile.

Und doch ist es erschreckend, wie viel Zeit es braucht, wie langsam es geht.

Meine Psyche scheint zu sagen, du bist so lange immer und immer wieder gnadenlos über deine Grenzen gerammelt, jetzt stürzen wir sicherheitshalber schon bei gerinstem Druck, bei der kleinsten Belastung.

Kleine Schritte, winzig kleine, ich genese.

Warte auf die Reha, hoffe da nochmal einen pusch zu bekommen.

Nur Schäferei, das ist vorbei.

Auch etwas, was es zu verdauen gilt.

Es war nicht mein Beruf, es ist meine Berufung.

Es ist was mich definiert.

Seit über dreißig Jahren.


 

Ich bin Schäferin.

Und kann meinen Beruf nicht mehr ausüben.

Berufsunfähig.

Ihr alle, die Ihr Schäferei liebt und lebt. Ihr wisst, dass es ruhig, ohne Druck, stressfrei, nicht gibt. Nicht geben wird. Im Gegenteil, die Bedingungen werden schlechter und schlechter. Der Kampf härter.

Ich bin nicht mehr in der Lage zu kämpfen.

Und nun?

Ich weiß noch nicht.

Ein Satz von Andreas Steinhöfel trifft mich:

„Mache niemals eine Leidenschaft zu deinem Beruf, denn dann bist du erpressbar.“

Nicht, dass ich meine Lebensentscheidung bereue. Aber es soll mir die Zukunft weisen.

Eine Arbeit, die meinen, durch Schäferei zum Glück nie verwöhnten, Lebensunterhalt deckt. Eine Arbeit, zu der ich gerne erscheine, meine Stunden bezahlt bekomme, und Wochenenden, und Urlaub. Abends nach Hause kommen, im eigenen Bett schlafen.

Es wird sich finden.

Ja, auch so ein Lernprozess.

Druck von mir nehmen, aus Sorgenkarussellen aussteigen.

Entspannen, loslassen, weiterleben.

 

 

Und Metti-Marit?

Mein letzter Hütehund.

Sie wäre mit mehr Zeit und Ausbildung sicher eine gute Arbeitskollegin geworden.

Doch sind ihre Interessen weit gestreut. Sie ist völlig zufrieden mit ihrem Freizeithundedasein.

Und ich mit ihr. Mein kleines Flusenhirn.